Jedes Lebens-, Sozial-, Wirtschafts- und Ökosystem ist ein komplexes System. Die Komplexitätswissenschaft hat das Bestreben, diese Systeme zu verstehen, die bisher dem wissenschaftlichen Verständnis und der wissenschaftlichen Kontrolle nicht zugänglich waren. Das ist die Grundüberlegung der Komplexitätsforschung, wie sie am Complexity Science Hub Vienna (CSH) betrieben wird. Die Komplexitätsforschung hat gerade in Corona-Zeiten einen Aufschwung erlebt – es hat sich gezeigt, wie verwoben und vernetzt Wirtschafts- und Sozialsysteme heute bereits sein. Grund genug, sich dem Thema im Rahmen eines Fachbuches zu widmen.
Es passte auch sehr gut zum heurigen Alpbach-Rahmenthema „Fundamentals“. Im Buch widmen sich u. a. AIT-Aufsichtsratsvorsitzender Hannes Androsch, CSH-Leiter Stefan Thurner, ERA Council Forum Austria-Vorsitzende Helga Nowotny oder Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, Themen aus den Bereichen Biologie & Gesundheit, Klima, Urbanisierung & Mobilität, Ökonomie & Automatisierung, Soziale Systeme, Verhalten von Menschen und Positionen der Kunst. Die Viefalt der Themenfelder zeigt wesentliche Auszüge zum großen Themenfeld „Komplexität“. Sie behandeln auch die Frage, wie die Menschen mit der neuen Komplexität eigentlich umgehen. „Vieles, was uns bisher als selbstverständlich schien, gilt nun nicht mehr. Fundamentale Grundlagen unseres Lebens und Wirtschaftens sind ins Wanken geraten“, sagt etwa Hannes Androsch, der auch Vorsitzender des Steering Committees der Alpbacher Technologiegespräche und Mitherausgeber des Jahrbuchs ist, „die Corona-Pandemie hat eine Reihe von Schwachstellen des heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems offengelegt und weiter verschärft. Deutlicher als jemals zuvor wird nun sichtbar, dass wir in einer tiefen systemischen Krise stecken, in der viele Krisenerscheinungen einander überlagern und beeinflussen“. Konkret nennt Hannes Androsch Umwelt- und Klimathemen, wirtschaftliche Probleme (wie Stagnation, weit verbreitete Armut und Ungleichheit) bis hin zu demografischen Ungleichgewichten, Migration und Anpassungsschwierigkeiten an die Digitalisierung. „Die Komplexitätsforschung nimmt diese Entwicklungen wahr und versucht, Antworten zu finden, wie wir damit umgehen können“, so Androsch weiter.
Neue Zugänge und Sichtweisen
Unter dem Generalthema Komplexität werden in dem Buch neue Sichtweisen und Zugänge aufgezeigt, um komplexe Systeme besser verstehen und managen zu können. „Neben einem Einblick in die Methoden und Problemstellungen der neuen Wissenschaft der Komplexitätsforschung wird in zahlreichen Fachgebieten nachgezeichnet, wie wir mit zunehmender Komplexität umgehen können“, resümiert der Wissenschaftsjournalist Martin Kugler, der die Redaktion des Buches übernommen hat. Ergänzt werden diese Fachkapitel durch künstlerische Positionen zum Thema Komplexität – in Form von Arbeiten der Wiener Künstlerin Judith Fegerl – sowie durch ein Interview mit dem Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, Gerald Bast. „Künstlerische Methoden sind es gewohnt, out of the box zu denken – diese Erkenntnisse brauchen wir, um mit zunehmend komplexen Problemen der Welt umgehen zu können“, meint Kugler. Dem stimmt Gerald Bast zu: „Die komplexen Probleme von heute sind nicht mehr aus der Sicht einer einzelnen Disziplin zu lösen.“ Eine Chance bieten seiner Meinung nach künstlerische Methoden, die herkömmliche wissenschaftliche Herangehensweisen ergänzen können. Künstler*innen seien geübt darin, mit Ungewissem und mit Mehrdeutigkeit umzugehen, aus eingefahrenen Denkstrukturen herauszutreten und das Neue zu suchen. Dieses Wissen zu nutzen, sei daher ein Gebot der Stunde. Gerald Bast bespielte heuer das Kulturprogramm ARTTEC für die Alpbacher Technologiegespräche.
Im Jahrbuch findet sich auch ein Interview mit der Doyenne der österreichischen Wissenschaftsforschung, Helga Nowotny. Sie plädiert dafür, die neuen Methoden der Komplexitätsforschung verstärkt dafür zu nutzen, um Fragen bezüglich der Zukunft zu stellen und sich dadurch besser auf die Ungewissheit vorbereiten zu können.
Häufig ein Henne-Ei-Problem
Natürlich darf in einem Expertenbuch über Komplexitätsforschung auch die Meinung von Stefan Thurner, Professor an der Medizinischen Universität Wien und Leiter des Complexity Science Hub Vienna, nicht fehlen. „Bei komplexen Systemen gibt es häufig ein Henne-Ei-Problem: Man kann im Allgemeinen nicht einfach angeben, welche Veränderung die Ursache und welche die Wirkung ist“, erläutert Thurner. Er gab ein anschauliches Beispiel von Folgewirkungen: „Denken Sie nur an eine Straßensperre: Sie wollen damit vielleicht den Verkehr an einer bestimmten Stelle regulieren – lösen damit aber vielleicht an einer anderen Stelle Staus aus.“ Eine zentrale Forschungsaufgabe ist es daher, Methoden zu entwickeln, mit denen die Eigenschaften und vielfältigen Beziehungen in komplexen Systemen beschrieben und analysiert werden können – um sie dann in Computermodellen nachbauen zu können. Solche Methoden leisten derzeit auch im Zuge der Corona-Krise wertvolle Dienste. Thurner war Teil des Prognosekonsortiums des Gesundheitsministeriums: Er erstellte mit seinem Team ein epidemiologisches Modell zur Kurzfristprognose der Ausbreitung des Virus – und beschäftigt sich auch mit den Folgen der Krise und Auswegen aus ihr.
Gerade diese Fragestellungen spielten bei den diesjährigen Alpbacher Technologiegesprächen eine große Rolle. „Das Rahmenthema des Europäischen Forums Alpbach lautete Fundamentals. Da müssen die Komplexität und damit die Komplexitätsforschung mitgedacht werden. Das AIT Austrian Institute of Technology war deshalb Gründungsmitglied des Complexity Science Hub Vienna“, spannt Wolfgang Knoll, wissenschaftlicher Geschäftsführer des AIT Austrian Institute of Technology einen Bogen zu den Arbeiten am AIT. Neben der Komplexitätsforschung, so Knoll weiter, seien am AIT aber auch Themen wie „Künstliche Intelligenz als tägliche Herausforderung für unser Leben“ von großer Bedeutung.