Christian Körner, ein international gefragter Botaniker, steht in einem blühenden Staudenfeld im steilen Gelände und erklärt mit anschaulicher Gestik am gegenüberliegenden Berghang den schleichenden Wandel der Vegetation vom Tal bis zu den Bergspitzen. Hier im Osttiroler Gschlösstal, einem idyllischen Ort mit Kuhweiden, urtümlichen Almsiedlungen, reißendem Gschlössbach und einmaliger Berglandschaft geht es hoch zum Schlatenkees, Tirols größtem Gletscher, der zur Venedigergruppe gehört. Vor 150 Jahren reichte der Schlatenkees noch bis ins Tal, heute muss man Hunderte Höhenmeter rauf, um die letzten Reste am Bergrücken bewundern zu können. Der in der Fachwelt für Alpinforschung international renommierte, mittlerweile emeritierter Professor der Universität Basel ist an diesem Sommertag bei der Exkursion mit Journalist*innen zum Thema „Bewegung am Berg – Forschung im Kontext des Klimawandels“, organisiert von Nationalparks Austria, selbst etwas bewegt. Am Vortag im Nationalparkzentrum Matrei, als Körner zu den Auswirkungen des Klimawandels in den Alpen referierte, wütete nämlich zugleich ein Waldbrand in einer bislang von solchen Naturkatastrophen verschonten Region in Griechenland. Fast wäre sein Ferienhaus in Flammen aufgegangen, wenn nicht glücklicherweise der Wind in der Nacht nicht noch in letzter Minute gedreht hätte.
© Fotos: Alfred Bankhamer
Klimawandel in den Alpen
Klimawunder Alpen
Rasender Gletscherschwund, steigende Baumgrenzen und tauende Permafrostböden. Eine Exkursion mit Forscher*innen im Nationalpark Hohe Tauern gab aber auch Einblick in die faszinierende Welt der Mikroklimata und Biodiversität. Ein Langzeitmonitoring-Projekt erforscht die Klimaauswirkungen.
Zirben im Aufstieg
An seinem Enthusiasmus änderte dies aber nichts, wenn er über oft völlig neue Erkenntnisse berichtet wie beispielsweise das nicht nur vertikale Verschieben der Vegetationsgrenzen durch die Klimaerwärmung, den oft gewaltigen mikroklimatischen Unterschieden innerhalb weniger Meter im Hochland jenseits der Baumgrenzen (die global der 6 °Celsius-Isotherme der Saisonmitteltemperatur folgt) und vielem mehr.
Der Gebirgsexperte ist nicht nur ein wandelndes Lexikon, sondern auch ein leidenschaftlicher Forscher im Feld. So berichtet er völlig fasziniert, dass er erst kürzlich bei einer Besichtigung des Oberhauser Zirbenwaldes auf 2.500 Meter erste junge Zirben finden konnte – das ist eine kleine Sensation in dieser Region. Zum Vergleich: In der Region Innsbruck liegt die Baumgrenze rund 500 Meter tiefer. Wie rasch sich hier die Vegetationsgrenzen durch den generellen Klimawandel und mikroklimatische Einflüsse verschieben, sei schlicht erstaunlich.
Eigenes Klima schaffen
Besonders oberhalb der Baumgrenze gibt es oft höchst unterschiedliche mikroklimatische Lebensumfelder. „In einem Umkreis von fünf Metern zeigen sich, besonders im Bereich von Schneemulden, teils Unterschiede wie innerhalb von 1.000 Höhenmetern“, so Körner, „ein Käfer oder eine Spinne ist also in Zeiten der Klimaerwärmung im alpinen Raum bestens aufgehoben. Es reichen ein paar Meter Weg, um einen kühlen Platz zu finden“, scherzt er. Deshalb kritisiert der Forscher auch alarmierende Aussagen, die vom Aussterben von Arten sprechen. Hier in den Alpen verschieben sich die Lebensräume, nehmen Populationen deutlich ab, aber ein großes Aussterben sei sehr unwahrscheinlich.
Trotzdem bekommt der Alpenraum die globale Klimaerwärmung deutlich zu spüren. Mit rund zwei Grad Celsius ist die Erwärmung hier doppelt so hoch als im weltweiten Schnitt. Die Folge sind seit Jahrzehnten deutlich zu sehen und zu spüren: die Gletscher verschwinden, es kommt vermehrt zu Starkregenereignissen, Muren, Stürmen oder auch Waldbränden. Für die „Natur“ sei dies aber kein wirkliches Problem. „Die Alpen sind eine riesige Fläche, haben zehn Eiszeiten überstanden und bieten viele Ausweichmöglichkeiten für Arten nicht nur in die Höhe. Große Arten wie etwa das Schneehuhn oder der Schneehase könnten aber verschwinden“, meint Körner. Weniger gut kann sich hingegen der Mensch mit seinen Besiedlungen im alpinen Gelände anpassen. Die zahlreichen Forschungsprojekte zum Wandel in der alpinen Welt beschäftigen sich deshalb nicht nur mit den Auswirkungen auf Flora und Fauna, sondern ebenfalls intensiv mit bedrohlichen Veränderungen durch auftauende Permafrostböden, Starkregenereignisse, Wasserbilanzen und vielem mehr. So wird man sich künftig mit gletscherfreien Alpengipfel abfinden müssen, die in ihrer kahlen Erscheinung eher südlichen Gebirgen wie den Pyrenäen gleichen, aber in Summe ist gerade die alpine Welt gegenüber klimatischen Veränderungen gut gerüstet.
Riesiger Forschungsraum
Der Nationalpark Hohe Tauern, der eine Fläche von 1.856 km² umfasst und über 300 Berggipfel jenseits von 3.000 m Seehöhe, 332 Gletscher, 279 Bäche, 26 größere Wasserfälle, 551 Bergseen sowie zahlreiche Almen und Kulturlandschaftsgebiete beheimatet, ist laut Forschungskoordinatorin Elisabeth Hainzer ein einmaliger Forschungsraum. Der hohe Grad an Unberührtheit vieler Gebiete ist für die wissenschaftliche Beobachtung natürlicher Prozesse in der Natur sehr wertvoll. Sie eignen sich perfekt als Referenzflächen zur Erforschung von Veränderungen durch den Klimawandel.
Zahlreiche Forschungsprojekte im Nationalpark beschäftigen sich mit Artenschutz, Lebensraumveränderungen, Indikatoren für den Klimawandel, Sukzession, der Tierwelt und vielem mehr. Ein wichtiger Punkt für die immer stärkere interdisziplinäre und internationale Forschung ist ebenfalls die genaue, vergleichbare Dokumentation, die ein umfassendes Daten- und Informationsmanagement erfordert. Und wirklich valide Datenreihen bieten nur Langzeitbeobachtungen.
Leben an der Existenzgrenze
Die Veränderungen in der Natur erfolgen oft sehr langsam. Deshalb initiierte der Nationalpark Hohe Tauern im Jahr 2016 ein bislang einmaliges, auf 100 Jahre angelegtes Projekt, das acht Fachbereiche vereint und neben Standorten im Kärntner Seebachtal, dem Salzburger Ober- und Untersulzbachtal, dem Innergschlössl in Osttirol ebenfalls Beobachtungsstellen in den Südtiroler und Schweizer Alpen umfasst. Ausgesucht wurden Schneetälchen-Biotope, da hier auf kleinstem Raum sehr unterschiedliche artspezifische Existenzgrenzen auftreten und eben Klimaunterschiede wie sonst nur auf Höhenausdehnungen von 500 bis 1.000 Höhenmetern nachvollziehbar sind. „Bei diesen Schneefeldern bietet uns die Natur ein Gratisexperiment“, so Körner, „hier spielt sie entlang der Schneeschmelzgradienten den Klimawandel schon heute durch.“ 360 Dauerbeobachtungsflächen wurden eingerichtet. Trotz relativ kurzem Beobachtungszeitraum hat sich schon gezeigt, dass beispielsweise grasartige Gewächse auf Erwärmung sensibler reagieren als krautige.
Neues Forschungskonzept
Erst kürzlich wurde das neue Forschungskonzept „NP-Hohe Tauern 2021+“ gestartet. „Wir fokussieren uns dabei auf die fünf Forschungsschwerpunkte Langzeitforschung, Biodiversität, Begleitforschung zum Nationalparkmanagement, gesellschaftlich Anforderungen an den Nationalpark und Technologien, die für Schutzgebiete relevant sind“, so Hainzer. Bei den Projekten spielt etwa auch Künstliche Intelligenz eine immer größere Rolle, um die riesigen Datenmengen aus den Beobachtungen verarbeiten zu können. Im Jahr 2031 folgt dann die Evaluierung des neuen Konzepts zur Qualitätskontrolle.
Vegetationskartierung
In Sachen Biodiversität laufen im Nationalpark Hohe Tauern schon länger Projekte. So wurde 2002 gemeinsam mit dem Salzburger Haus der Natur eine Biodiversitätsdatenbank initiiert, die über eine halbe Million Datensätze und mehr als 12.000 Arten sowie Unterarten umfasst. In Summe sollen im Nationalpark laut Schätzungen rund 20.000 Pflanzen-, Pilz- und Tierarten beheimatet sein. Um mehr über Biotoptypen, Sukzession und dynamische Prozesse im sich wandelnden Nationalpark zu erfahren, wurde 2020 ein groß angelegtes Projekt zur Vegetationskartierung gestartet, das eng mit dem Langzeitmonitoring verknüpft wurde. Zwei Jahre lang untersuchte ein Team von sechs Expert*innen, geleitet von Satellitendaten, Meter für Meter das Gebiet ab, um die Lebensräume zu erheben. Besonders spannend ist für Vegetationsökologin Evelyn Brunner von der Revital Integrative Naturraumplanung, die das Projekt durchgeführt hat, Flächen wie das alpine Schwemmland von Gletschern, wo die Besiedelung von null weg startet. Hier lässt sich die zeitliche Abfolge der Neubesiedlung perfekt verfolgen und mit Gebieten vergleich, in denen sich die Gletscher schon lange zurückgezogen haben. Für die Kartierung hat Andreas Nemmert von Revital eigens eine App entwickelt. „Wir haben 36.000 genau definierte Punkte mit unterschiedlichen Pflanzen in der Datenbank. Damit können wir vergleichen, wie sich die Vegetation über die Jahre entwickelt.“
Auftauender Permafrost
Nach dem Besuch im Innergschlöss ging es am Tag darauf ins Salzburger Obersulzbachtal auf der anderen Bergseite des Großvenedigers, um am Sattelkar die Hangrutschungen durch den auftauenden Permafrost zu besichtigen. Bis zum großen Murenabgang im Jahr 2005, der rund 400.000 Kubikmeter Gestein bis in den Talboden befördert hat, weideten hier noch Kühe. Heute ist es ein riesiges Geröllfeld, das laufend in Bewegung ist. Das Donnern der öfters ins Tal stürzenden Felsen ist an manchen Tagen deutlich zu hören. „Das Gelände hat sich in den letzten 20 Jahren stark verformt“, erklärt der Geomorphologe Ingo Hartmeyer vom Salzburger Forschungsinstitut Georesearch. Wohl schon rund ein Millionen Kubikmeter Gestein hat sich im Talboden abgelagert, wovon rund ein Drittel schon vom Obersulzbach abtransportiert wurde. Mit Sensoren, Luftaufnahmen, Mikrofonen und Begehungen wird dieses Gebiet genau erforscht, da der auftauende Permafrost in vielen Gebirgsregionen große Probleme bereiten kann. „Weitere zwei Millionen Kubikmeter Gestein könnten hier noch folgen“, so Hartmeyer, denn es braucht noch einige Zeit, bis der aktuelle Temperaturanstieg in den Tiefen der Berge ankommt.
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