Die Wirtschaft sollte bei Beschaffung, Produktion und Logistik alle Konzepte, die auf einem interkontinentalen Warenaustausch im großen Stil basieren, so weit wie möglich vermeiden, empfiehlt Jane Enny van Lambalgen, CEO der Beratungs- und Managementfirma Planet Industrial Excellence. Als Grund nennt sie „geopolitische Spannungen, die Lieferketten jederzeit unkontrollierbar unterbrechen können, aber auch die steigenden Transportkosten.“ Es sei „das Gebot der Stunde, sich von einer übermäßigen globalen Arbeits- und Warenverteilung über Kontinente hinweg zu verabschieden.“
Rückbesinnung auf das Regionalitätsprinzip
„In einer auf Globalität ausgelegten Weltwirtschaft ist die Rückbesinnung auf das Regionalitätsprinzip schwierig“, räumt Jane Enny van Lambalgen ein. Aber sie gibt zu bedenken: „Wenn die gesamte Produktion in Europa und Amerika von bestimmten Teilen oder Teilschritten in Asien abhängig ist, dann bedeutet das eben auch, dass jeder Konflikt in Asien bzw. in den entsprechenden asiatischen Ländern oder auf den Transportwegen potenziell das ganze Unternehmen lahmlegt.“
Der häufig für die Produktion in Asien angeführte Kostenvorteil von je nach Branche und Produkten 30 bis 70 Prozent könne zwar nicht vernachlässigt werden, gibt die CEO von Planet Industrial Excellence zu. Aber „angesichts der Gefahr eines völligen Produktionsstopps wird das Verharren in Kostenkategorien der aktuellen Weltlage nicht gerecht“, meint sie.
Zweistufiges Vorgehen: erst Beschaffung, dann Produktion
Jane Enny van Lambalgen rät Unternehmen zu einem zweistufigen Vorgehen, um mehr Unabhängigkeit von den zunehmenden geopolitischen Spannungen zu erreichen. Im ersten Schritt sollte die Beschaffungsseite so ausgerichtet werden, dass es für jedes Vorprodukt mindestens zwei Lieferanten gibt, die auf verschiedene Kontinente verteilt sind.
„Das stellt das mittelständische produzierende Gewerbe vor enorme Herausforderungen“, weiß die CEO aus zahlreichen Projekten. „Dennoch sind die Unternehmen gut beraten, diesen ersten Schritt zügig anzugehen, bevor es irgendwo auf der Welt wieder einmal knallt“, formuliert sie salopp. Jane Enny van Lambalgen führt aus: „Über die offensichtlichen Konflikte in der Triade der Großmächte USA, China und Russland, die wiederum zahlreiche Stellvertreterkonflikte in sich bergen, lauern rund um den Globus viele weitere Gefahren etwa durch Terrororganisationen, deren Auswirkungen kein Unternehmenslenker vorhersehen kann. Kluge CEOs setzen daher die Deglobalisierung im Sinne einer Produktion dort, wo sich der Kundenkreis des Unternehmens befindet, ganz weit oben auf ihre Agenda.“
Warnung vor der Lieferkettenfalle
Dabei warnt Jane Enny van Lambalgen beim Ringen um mehr Unabhängigkeit vor der „Lieferkettenfalle“: „Es nützt nichts, für ein europäisches Werk auf einen Zulieferer in Europa zu setzen, der seinerseits von asiatischen Vorprodukten abhängig ist“, gibt sie ein konkretes Beispiel.
Sie rät dazu, den im Zusammenhang mit der aktuellen EU-Regulatorik zur Lieferkette ohnehin anfallenden Aufwand zu nutzen, um nicht nur die vom Gesetzgeber geforderten Nachhaltigkeitsnachweise zu erbringen, sondern auch gleich, um die Resilienz der Lieferkette im Angesicht geopolitischer Spannungsfelder zu durchleuchten. „Für die Lieferkette gilt dasselbe wie für jeder Kette: Sie ist nur so haltbar wie ihr schwächstes Glied“, verweist die CEO auf „eine Binsenweisheit, die im Management häufig zu wenig Beachtung findet.“
Positive Beispiele von Bosch bis Hugo Boss
Im zweiten Schritt sollte die Verringerung der globalen Abhängigkeiten über die Beschaffung hinausgehend auf die Produktionsstätten ausgeweitet werden. „Was in Amerika verkauft wird, sollte in Amerika produziert werden. Was in Europa verkauft wird, in Europa“, bringt es Jane Enny van Lambalgen auf den Punkt. So bewertet sie die seit einiger Zeit zunehmenden Produktionsverlagerungen von Deutschland nach Polen oder in andere osteuropäische Länder als „betriebswirtschaftlich unkritisch und häufig sinnvoll“. Sie verweist beispielhaft auf Bosch, Miele, Viessmann „und viele weitere Mittelständler und Konzerne“, die den Weg ins Nachbarland erfolgreich beschritten hätten.
„Doch der Aufbau einer Fertigungsstätte in Asien ist derzeit und wohl auf absehbare Zeit nur sinnvoll, wenn die dort produzierten Produkte auch primär in Asien Absatz finden“, gibt sie klare Richtlinien für die Deglobalisierung vor. Ganz im Gegenteil rät sie dazu, soweit wie möglich Fertigungslinien aus Asien zurück nach Europa zu holen. „Das muss nicht zwangsläufig über den Aufbau eigener europäischer Produktionsstätten erfolgen. Die Auslagerung an Auftragsfertiger mit europäischer Fertigung stellt eine veritable Alternative dar“, stellt sie klar, „solange sichergestellt ist, dass der Auftragsfertiger seinerseits nicht in der Lieferkettenfalle steckt.“ Als gutes Beispiel für dieses Modell nennt sie das Vorgehen des Modekonzerns Hugo Boss.
Haupthürde: Kastendenken in Kostenkategorien
Als eine Haupthürde für die Stärkung der Resilienz durch Deglobalisierung bezeichnet Jane Enny van Lambalgen „das Kastendenken in Kostenkategorien“ in weiten Teilen der Wirtschaft. Sie gesteht den „Kostenreitern im Management“ zu: „Natürlich ist es hier und heute preiswerter, Vorprodukte aus Asien zu beziehen bzw. dort eine Produktionsstätte zu betreiben als etwa in Europa. Doch das mit dieser Abhängigkeit verbundene Risiko steigt ständig und wird immer unkalkulierbarer.“ Das gilt erst recht für den Schutz von spezifischem Knowhow wie Software, gibt sie zu bedenken.
Das nächste Corona könnte Taiwan heißen
Jane Enny von Lambalgen wundert sich: „In vielen Managementetagen sind die Lehren aus Corona offenbar schon wieder verblasst. Doch man muss sich klar machen: Corona kann jederzeit wiederkommen, nur dass es diesmal vielleicht Taiwan heißt.“ Als „kluge Maßnahme“ lobt sie den Gang des deutschen Mittelständler Stihl in die Schweiz. „Ein gutes Beispiel für eine gelungene Flucht vor der überbordenden Regulatorik in der EU und den ausufernden Betriebskosten für eine Fertigung in Deutschland“, urteilt Jane Enny van Lambalgen.