Insbesondere die Entscheidungsfähigkeit, ob eine physiotherapeutische Behandlung fortgeführt („keep“) oder die Betroffenen an Ärztin bzw. Arzt zurück überwiesen werden sollen („refer“), könnte durch gezielte Fortbildung und spezialisierte Trainingsprogramme weiter verbessert werden. Die Ergebnisse machen deutlich, dass gezielte Maßnahmen wünschenswert und notwendig sind, um das Wissen der Fachkräfte vor allem im Umgang mit schwerwiegenden Erkrankungen zu erweitern.
Auch Österreich ist auf die Expertise seiner Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten angewiesen, um die Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung zu bewahren oder nachhaltig zu fördern. Gut ausgebildete Fachkräfte spielen besonders bei der Rehabilitation nach Verletzungen oder bei der Betreuung chronisch Erkrankter eine entscheidende Rolle. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Jessica Janssen und Assoz. Prof. Wolfgang Lackenbauer vom Institut für Therapie- und Hebammenwissenschaften am IMC Krems hat in einer aktuellen Studie erstmals Basisdaten zur Entscheidungskompetenz der Fachkräfte für Physiotherapie erhoben – und dabei durchaus Verbesserungsbedarf festgestellt.
Klinische Vignetten mit roten Fahnen
Für die Studie wurden 479 Physiotherapeutinnen und -therapeuten befragt. Auf dem Prüfstand stand dabei ihre Entscheidungskompetenz, ob fiktive Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Fallbeschreibung („klinische Vignette“) weiter behandelt („keep“) oder zur erneuten Abklärung an Ärztin bzw. Arzt zurück überwiesen werden sollten („refer“). "Besonderes Augenmerk haben wir auf das Erkennen sogenannter „Red Flags“, also Warnzeichen für eine ernsthafte Erkrankung, bei unseren fiktiven Fällen gelegt", sagt Jessica Janssen, Erstautorin der Studie. Dass bei der Einschätzung des weiteren Vorgehens Verbesserungsbedarf besteht, zeigten die Studienergebnisse sehr deutlich: Bei kritischen klinischen Vignetten entschieden nur 53,5% der teilnehmenden Fachpersonen richtig, bei Fällen mit muskuloskelettalen Erkrankungen waren es immerhin 70,5% und bei unkritischen medizinischen Fällen fast 80%. Lediglich 2 Fachkräfte (0,4%) waren in der Lage, alle 12 im Fragebogen vorgestellten Fälle vollständig richtig zu beurteilen. Insgesamt zeigte sich somit, dass das Erkennen der "Red Flags", also Anzeichen für schwerwiegende Erkrankungen, noch mehr gezielter Schulungen bedarf.
Fortbildung & Kooperation
Passend zu diesem Ergebnis gaben auch mehr als die Hälfte der befragten Therapeutinnen und Therapeuten an, dass sie sich eine verstärkte Fortbildung im Bereich schwerwiegender Erkrankungen, die sich hinter Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems verbergen können, wünschen. „Unsere Studie zeigt, dass es ein deutliches Potenzial und eine Bereitschaft für eine Professionalisierung der Physiotherapie in Österreich gibt. Hier sollten also gezielte Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich der klinischen Entscheidungsfindung und der Erkennung von „Red Flags“ angeboten werden“, erklärt Wolfgang Lackenbauer, zweiter Hauptautor der Studie.
Ein enger Austausch und eine interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen dem physiotherapeutischen Fachpersonal und den Ärztinnen und Ärzten sind allerdings entscheidend, um eine bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen die Notwendigkeit, in die Aus- und Weiterbildung von Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten zu investieren. Mit der richtigen Ausbildung und einem verstärkten Fokus auf das Erkennen von „Red Flags“ können sie die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten weiter verbessern und gleichzeitig das Gesundheitssystem entlasten. Zukünftige Forschungsinitiativen könnten dazu beitragen, spezifische Trainingsprogramme zu entwickeln, die sowohl die klinische Entscheidungsfindung als auch die interprofessionelle Zusammenarbeit weiter fördern.
Originalpublikation: Keep/Refer Decision Making in Austrian Physiotherapists: Implications for Training and Education. (2024). BMC Primary Care 25:387.
Mehr Informationen unter imc.ac.at.