Viel zu einseitig und alten Paradigmen verhaftet soll „Industrie 4.0“ gewesen sein, überhaupt nicht würdig, um eine industriepolitische Vision darzustellen. Die neue Vision – „Industrie 5.0“ – soll anders sein, heißt es. Sie könnte erstmals den Weg in die richtige (industriepolitische) Zukunft weisen – jetzt aber wirklich. Um Industrie 5.0 zu verstehen, muss man zuerst einen Schritt zurückgehen, in die Welt von Industrie 4.0.
Eigentlich war dieser Begriff zuerst nicht viel mehr als ein besserer PR-Gag gewesen. Um die „smarte Fabrik“ bei der Industriemesse 2011 in Hannover besser vermarkten zu können, suchten Marketing-Strategen nach einem geeigneten Begriff, der die neuen Automatisierungstechnologien in der Produktion durch WLAN und das „Internet der Dinge“ besser in Szene setzen könnte. Mit „Industrie 4.0“ trafen sie den Nagel auf den Kopf. In den nächsten Jahren machte der neue Industriebegriff, der mit seiner Nummerierung nach neuester Softwareversion klang, aber eine atemberaubende internationale Karriere. Denn „Industrie 4.0“ hatte etwas Wuchtiges, Kantiges.
Die Industrie mit Versionsnummer vier fühlte sich nach etwas Großem und noch nie dagewesenem an. Zumindest am Papier. Denn einerseits stellten die Wortschöpfer die digitalen Neuentwicklungen in einen industriegeschichtlichen Kontext und wiesen ihr noch dazu einen revolutionären Charakter zu. In einem Atemzug konnte die smarte Fabrik nun mit anderen technologischen „Revolutionen“ genannt werden, wie der Einführung von Dampfmaschinen („Industrie 1.0“), elektrifizierten Fließbändern („Industrie 2.0“), oder der Einführung des Computers in der Produktion überhaupt („Industrie 3.0“).
Keine Revolution
Die Crux dabei: Industrie 4.0 klang zwar schön, neu und technologisch mächtig. Mit den industriehistorischen Fakten nahm es der Begriff freilich nicht so genau. Weder lag durch die smarte Fabrik ein technologischer Wandel vor, der einen Revolutionsbegriff rechtfertigen würde. Noch war ein entsprechender gesellschaftlicher Wandel erkennbar. Allenfalls, so monierten Experten der Industriegeschichte, könnte man von einer zweiten Digitalisierungswelle reden. (In der Sprache der Software-Updates würde das wohl eher ein „Industrie 3.1 oder 3.2“ hergeben.) Im Prinzip wäre „Industrie 4.0“ daher eher ein Handlungsanleitung, die nach dem Motto: „self-fulfilling prophecy“ funktionieren sollte.
Als industriepolitische Vision fand der Begriff in den nächsten Jahren aber durchaus Anklang. Die deutsche Bundesregierung richtete eine Expertenkommission ein, die „Industrie 4.0“ als Zielsetzung für ihre neue Industriepolitik ausarbeitete. Darauf nahmen wiederum andere Industrieländer Bezug. Und in internationalen Talks und Expertenrunden wurde die „Industrie 4.0“ eine Zeitlang zur Metapher für die neuen digitalen Produktions-Zeiten überhaupt.
Viel Kritik
Es dauerte allerdings nicht lange, bis Kritiker auf den Plan traten, die dem Begriff „Industrie 4.0“ nicht nur seine historische Belastbarkeit, sondern auch seine Qualität als Zukunftsvision absprachen. Denn, so hieß es auf internationalen Konferenzen und in Online-Foren: Für eine industriepolitische Vision sei der Begriff viel zu technologielastig und bewege sich zudem nur in alten Paradigmen, in denen es ausschließlich um Effizienz und schnöde Profitsteigerung ginge. Für die drängenden Probleme der Zeit aber – von Klimakrise über die Zukunft der Arbeit bis hin zur (über-)alternden Gesellschaft – habe „Industrie 4.0“ keine Ant- wort parat. Ein „update“ müsse also her. Aber ein völlig anderes.
Industrie 5.0
Unter dem Stichwort „Industrie 5.0“ entwickelte sich daher bald eine Gegenbewegung. Ihr Kennzeichen: Sie wollten die Industrie stärker in ihre soziale und gesellschaftliche Verantwortung nehmen. Vor allem die europäische Kommission fand Gefallen an der Entwicklung einer neuen erweiterten Industrievision. So wie Deutschland zuvor eine Kommission für Industrie 4.0 gegründet hatte, gründete die Kommission nun eine für „Industrie 5.0“. Und deren inhaltlichen Ausgestaltung ist tatsächlich anders: In der neuen europäischen – also fünften Industrie-„Visionsversion“ spielt die digitale Automatisierung, Robotik und Künstliche Intelligenz zwar noch immer eine wesentliche Rolle.
In die Vision flossen aber auch eine Reihe ökologischer und wirtschaftsethischer Überlegungen ein. Im Prinzip sind das bekannte EU-Ziele, allen voran der „Green Deal“, also die klimaneutrale Produktion bis 2050. Aber auch die Entwicklung neuer menschengerechter Arbeitsplätze oder eine serviceorientierte Digitalisierung der gesamten Gesellschaft fanden darin ihren Platz.
Mittlerweile dient der Begriff „Industrie 5.0“ als eine Art „Nordstern“ im Umgang mit neuen Technologien, Geschäftsmodellen und Industrieentwicklungen. Fabriken sollen etwa durch mehr Digitalisierung nicht menschenleer werden, sondern Arbeitskräfte für kreative Tätigkeiten freispielen. Profite sollen selbstverständlich weiterhin erwirtschaftet werden, die Wettbewerbsfähigkeit aber im Rahmen nachhaltiger Produktion erfolgen – inklusive Ressourcenschonung, Recycling und Umstellung auf CO2-neutrale Energiequellen.
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