Es gibt ihn kaum noch in Österreich, den Urwald. Und auch die letzten Flecken konnten nur überdauern, da sie glücklicherweise sehr schwer zugänglich sind wie hier im Nationalpark Kalkalpen. Auf einem steilen Hang im abgelegenen Kohlersgraben liegt ein mächtiger, zunehmend vermodernder Stamm einer uralten, einst 30 Meter hohen Rotbuche. Sie bietet nun viele Jahre den Lebensraum für unzählige Arten – ob Moose, Pilze, Käfer und weitere Waldbewohner. Wie der Name Kohlersgraben schon andeutet, dienten die Wälder dieser Gegend einst der Holzkohlengewinnung. Der Holzbedarf für die Kohleherstellung war gewaltig. Insbesondere, da der Erzberg, an dem seit dem 11. Jahrhundert Eisenerz abgebaut wird, nicht weit entfernt ist. Viel Holz wurde auch über die Wasserwege bis nach Wien geflößt. „Nun ist das eine Urwaldzone“, freut sich Franz Sieghartsleitner, ein langgedienter Experte des Nationalparks Kalkalpen. Er hat sich selbst stark für die Schaffung des Nationalparks engagiert und einige Bücher über die Schutzgebiete der Region, vor allem für Wanderlustige, geschrieben.
Die Geburtsstunde dieses Nationalparks läutete - wie bei vielen Naturschutzgebieten – eine Protestbewegung gegen große Infrastrukturprojekte ein. In diesem Fall ging es um zwei Speicherseen für ein Staukraftwerk. Heute kann man vom Grund aus und einer schönen Gebirgsauenlandschaft erahnen, wie gigantisch das Projekt gewesen wäre. Der jüngste Wanderführer von Sieghartsleitner widmet sich dem Luchstrail.
Rückkehr des Luchs
Der in Österreich schon längst ausgestorbene Luchs wurde, wie etwa auch der Bartgeier oder die Steinböcke in den Hohen Tauern, erst seit einigen Jahren wiederangesiedelt. Mittlerweile ist er quasi das Wahrzeichen des Nationalparks, der mit 20.850 Hektar das größte zusammenhängende Waldschutzgebiet der Republik Österreich darstellt und international für seine Vielfalt an Waldbiotoptypen wie den Laubwäldern der Tallagen, den montanen Mischwäldern, den subalpinen Nadelwäldern oder der alpine Krummholzzone bekannt ist. In Zeiten der großen Biodiversitätskrise mit einem extrem rasch beschleunigten Artensterben, zu dem Mitte Oktober die UN-Weltkonferenz COP-15 abgehalten wurde und in Österreich um die letzten Details der neuen Biodiversitätsstrategie 2030 gerungen wird – der Beschluss soll noch diesen Herbst fallen –, sind das die letzten Oasen für die ursprüngliche Natur (siehe Artikel zur Biodiversitätskonferenz COP15, S.22).
Natur entwickeln lassen
Im Nationalpark Kalkalpen streifen aktuell sechs Luchse durch die Landschaft. „Wir bräuchten eine Population von mindesten 30, damit der Luchs dauerhaft überleben kann“, erklärt der Zoologe Erich Weigand. Dabei spielt, wie bei allen Ansiedlungs- und Artenerhaltungsprojekten, auch die Genetik eine wichtige Rolle. Vor einigen Jahren wurden noch dazu zwei der wertvollen Tiere von einem älteren Jägerpaar geschossen, wofür sie pro Tier dem Nationalpark nach einem längeren Gerichtsverfahren 12.100 Euro Schadensersatz zahlen mussten. Auch heute noch ist der Luchs bei einem Teil der Jägerschaft verhasst, da er als Konkurrenz gesehen wird, der das Wild scheu macht. Im natürlichen Wald und durchaus auch im Wirtschaftswald sind sie hingegen – wie die meisten Beutejäger – ein Segen. Aktuell müssen nämlich Berufsjäger noch in den Nationalparks Wild entnehmen, da vor allem große, ungestörte Rehwildherden konzentriert an einem Platz dem Waldnachwuchs den Gar- aus machen. Beutejäger verringern nicht nur deren Bestand, sondern sorgen auch dafür, dass sie sich besser verteilen und sich so der Wald regenerieren kann.
Einen Luchs bekam die kleine Gruppe Journalisten bei der Exkursion von Nationalparks Austria leider nicht zu sehen. Die Dachorganisation der Nationalparks hatte eingeladen, die raren Naturlandschaften in den Nationalparks Kalkalpen, Gesäuse und dem Natur- und Geopark Steirische Eisenwurzen zu erkunden. Diese wertvollen Naturzonen sind auch „Hotspots“ der Biodiversität. „Man schätzt, dass es im Nationalpark Kalkalpen rund 20.000 Tierarten gibt, von denen erst 4.500 dokumentiert sind.“ Darunter etwa der sehr seltene Weißrückenspecht, viele einzigartige Käferarten oder die Urform der Bachforelle im Oberlauf des Reichramingbachs. Die Region wird wegen ihren Naturreichtums schon länger intensiv wissenschaftlich erforscht (siehe Kasten S. 10). Dabei geht es auch um Fragen wie die Auswirkungen des Klimawandels oder darum, wie die extrem rasch schrumpfenden Artenvielfalt gebremst werden kann.