Ein „zahnloser Papiertiger“, „ein Kompromiss des Kompromisses“, ein Gesetz voll mit Gummiparagrafen, Vieldeutigkeiten und verwässerter Materie. Auf den Biodiversitätstagen, die heuer an der Universität für Bodenkultur stattfanden, waren sich Expertinnen und Experten selten einig, dass das neue Renaturierungsgesetz, auf das man sich in der Europäischen Union dieser Tage einigen konnte, nicht gerade das Gelbe vom Ei sei. Und doch wird das Regelwerk im selben Moment auch als ein historisches Ereignis gefeiert. „Wir sind schon froh, dass es jetzt überhaupt einen Text gibt“, sagte etwa Klimaschutzministerin Leonore Gewessler im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema Biodiversität. Sitznachbar Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Universität Wien und Wissenschaftler des Jahres 2022, pflichtet ihr bei. So wie in Österreich gehe es auch auf europäischer Ebene zu. Von der Tendenz laufe es in die richtige Richtung, aber es passiere zu wenig und zu langsam. Dass sich Befürworter die Latte für eine positive Bewertung so niedrig gehängt haben, kommt nicht von ungefähr.
Monatelang hatten Agrarlobbyisten heftig und polemisch gegen den Kommissionsvorschlag zur neuen Renaturierungs-Richtlinie interveniert. Mehrere Male stand es Spitz auf Knopf, dass das EU-Parlament den Text überhaupt als Ganzes zurückgewiesen hätte. Ob das Regelwerk für die Renaturierung geschädigter Land- und Wasserflächen in der Europäischen Union tatsächlich jemals in Kraft treten wird, ist weiterhin noch ungewiss. Denn noch haben die Gegner nicht aufgegeben. „Fingers crossed“, sagte Gewessler, „hoffentlich findet die Renaturierungsverordnung eine endgültige Mehrheit im Parlament.“
Die Renaturierungsfrage
Hintergrund für die zum Teil heftigen Reaktionen auf den Kommissionsvorschlag war die Frage, ob und wie sehr auch geschädigte Flächen renaturiert werden sollen, die auch von der Land- und Forstwirtschaft genutzt werden. Aus Sicht der Biodiversität und dem Erhalt der Artenvielfalt wäre die Frage einfach zu beantworten. „Ein Renaturierungsgesetz, dass sich nur auf Flächen beschränken würde, die bereits unter Naturschutz stehen, wäre widersinnig und würde an der Sache vorbeigehen“, so Biodiversitätsforscher Essl.
Großteil der Böden geschädigt
70 bis 80 Prozent der Böden gelten in der EU als geschädigt, zum Teil durch Methoden der intensiven Agrarwirtschaft, zum Teil durch Flächenfraß und Bodenversiegelung hervorgerufen. Die Verordnung, die unter anderem die Wiederverwässerung von trocken gelegten Mooren, die Halbierung des Spritzmitteleinsatzes und die Renaturierung von 25.000 Flusskilometern vorsieht, würde aus ökologischer Sicht und im Sinne des Artenschutzes durchaus Sinn machen, sagt Essl. So könnte die Flutung von trocken gelegten Mooren den Lebensraum von gefährdeten Vögeln, Amphibien und Insekten wiederherstellen und so zum Artenschutz beitragen. Zudem würden auch Blühstreifen, Flussnaturierungen, Hecken oder neue Formen der stickstoffärmeren Düngung das Artensterben hintanhalten und so auch zu einer Trendumkehr beim zum Teil rasanten Rückgang von Wildbienen und anderen Bestäubern beitragen, was auch der Ernährungssicherheit zugutekäme.
Wichtig für die Klimaziele
Zum anderen würden gezielte Renaturierungs-Maßnahmen auch die Klimaziele des Green Deals unterstützen. Trocken gelegte Moore machen zwar nur drei Prozent der europäischen Landwirtschaftsfläche aus. Sie seien aber für ein Viertel der Treibhausgas-Emissionen des Agrarsektors verantwortlich, stellte die EU-Kommission fest. Die Wiederverwässerung könnte so einen kostengünstigen Hebel darstellen, um neue CO2-Senken zu schaffen und würde zum Ziel der Klimaneutralität im Rahmen des Green Deals in der EU bis 2050 beitragen. Die wissenschaftlich unterstützte „Amore für die Moore“, die in das Renaturierungs-Regelwerk eingeflossen war, löste aber unerwartet heftige Gegenreaktionen aus. Ausgerechnet die Parteifreunde der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von der Europäischen Volkspartei zogen gegen die Mitwirkung der Landwirtschaft für den Naturschutz ins Feld. Die Miteinbeziehung von landwirtschaftlich genutzten Ökosystemen wurde als „ideologisch überfrachtet“ und „weltfremd“ kritisiert und eine scharfe Kampagne dagegen gefahren – in der auch vor Übertreibungen und Zuspitzungen nicht urückgeschreckt wurde.
Fake News-Kampagnen
So tauchten auf Social Media-Kanälen etwa Meme auf, die behaupteten, dass die Europäische Kommission alle trocken gelegten Moorflächen auf den Urzustand in den 1950er Jahren zurückversetzen wolle. Dafür sollten nicht nur die landwirtschaftliche Nutzung gestoppt, sondern auch Bauwerke abgerissen und Dörfer abgesiedelt werden, um ehemalige Moorflächen wiederverwässern zu können. „Ein Unsinn“ sagt Essl. Richtig daran war nur, dass die Kommission 1953 als Bezugsjahr vorgeschlagen hatte, von dem aus die insgesamt trocken gelegte Moorfläche berechnet werden können. Für eine verpflichtende Renaturierung seien laut Verordnung aber nur Anteile von landwirtschaftlich genutzten Mooren im einstelligen Prozentbereich vorgesehen gewesen. Dabei hätten EU-Länder selbst bestimmen können, welche Flächen sie dafür auswählen würden. Aber auch das war Lobbyisten des Agrarsektors noch zu viel. Ihre Argumentation: In Zeiten der Teuerung könnte man auf keinen Quadratmeter Fläche verzichten. Denn schon ein paar Prozent mehr oder weniger Anbaufläche würden unter heutigen Umständen schon über die bäuerliche Existenz oder Nichtexistenz entscheiden.