Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Pichler
© Lei Shi / Fakultät für Physik, Universität Wien
Vielseitiger Kohlenstoff
Kohlenstoff ist selbst in seiner elementaren Form dank seiner hohen Bindungsvielseitigkeit ein faszinierend mannigfaltiges Element. Über die physikalischen Eigenschaften von Carbin gab es bislang nur theoretische Modelle. Demnach ist diese eindimensionale Kette gar 40-mal steifer als Diamant, doppelt so steif wie Graphen und weist noch dazu eine weit höherer Zugfestigkeit auf. Weiters bietet Carbin vielversprechende elektronische Eigenschaften. Diese ändern sich in Abhängig von der Länge der eindimensionalen Kette, was zu völlig neuartigen nanoelektronischen Anwendungen führen könnte, wozu Quantenspintransport oder magnetische Halbleiter zählen. Konkret könnte Carbin dank der außerordentlichen optischen Eigenschaften etwa als Marker in der Medizin dienen – wie heute schon die Nanoröhren -, um etwa verfolgen zu können wohin ein Krebsmedikament wirklich wandert. Mit Carbin-Ketten lässt sich die Quantenausbeute, also das Lichtsignal, sehr deutlich steigern und damit der Weg eines Medikaments besser verfolgen. Hierzu ist ebenfalls kürzlich eine Publikation in Druck. Warum Carbin ein um den Faktor 100 stärkeres Signal als die schon sehr "hellen" Nanotubes liefert, ist noch ein großes Rätsel. Wie es zu diesen Resonanzen kommt, wird ForscherInnen noch länger beschäftigen.
Nanotubes als Brutkasten
Die Carbin-Erzeugung und die daraus möglichen Experimente haben gerade erst begonnen. Dank der an der Uni Wien entwickelten Methode, in doppelwandigen Kohlenstoffnanoröhren das hochreaktive Carbin zu stabilisieren und in diesem "Nano-Brutkasten" auch wachsen zu lassen, liegt die Beschränkung laut Pichler eigentlich nur in der Länge der Nanotubes. Die höchste Form des Carbin, eine wirklich unendlich Kette, lässt sich in der Praxis freilich nie realisieren. Aber das Potenzial dieser neuen, langen Molekülketten ist gewaltig.
Bislang sorgte vor allem die zweidimensionale Form von Kohlenstoffketten und hier besonders Graphen für großes Aufsehen. Aus diesen einlagigen Grafitschichten lassen sich etwa auch Nanotubes rollen oder Fullerene (hohle, geschlossene Moleküle) falten. 2010 erhielten Konstantin Novoselov und Andre Geim für ihre Arbeiten an Graphen und der Entdeckung über dessen zahlreichen außergewöhnlichen Eigenschaften den Nobelpreis für Physik. Fasziniert von den potenziellen Anwendungsmöglichkeiten wurden weltweit große Graphen-Forschungsprogramme gestartet.
Neue eindimensionale Dimensionen
Carbin, die bislang einzige nicht nachgewiesene Form von reinem Kohlenstoff, führt nun als eindimensionaler Festkörper wiederum in völlig neue Dimensionen. Dabei wurde es, in der ursprünglichen Definition als eine unendlich lange eindimensionale Kette von Kohlenstoffatomen bezeichnet, bereits 1885 vom späteren Nobelpreisträger Adolf von Baeyer vorhergesagt. Der deutsche Chemiker meinte aber auch, dass diese eindimensionale Kohlenstoffkette wegen ihrer sehr hohen Reaktionsfreudigkeit schier unmöglich herzustellen sei. Bis heute hatte von Baeyer auch beinahe recht behalten. Denn in den letzten 50 Jahren konnten trotz zahlreicher Versuche nur ganz kurze eindimensionale Kohlenstoffketten produziert werden. 2003 lag der Rekord mit einer organisch-chemischen Herstellungsmethode bei 44 Atomen, wobei Chemiker versucht haben, durch immer längere Endgruppen die empfindliche Kette zu stabilisieren. Dieser Trick funktioniert aber nur bis zu einer gewissen Länge, da sonst das fragile Gebilde einfach auseinanderbricht.
Heiliger Gral des Kohlenstoffs
Der Trick, mit zweidimensionalen Grafitschichten Nanotubes zu bauen, um darin eindimensionales Carbin wachsen zu lassen, sorgte deshalb seit der Publikation in Nature Materials "Confined linear carbon chains as a route to bulk carbyne" (http://dx.doi.org/10.1038/NMAT4617) für großes Aufsehen. Den ForscherInnen der Uni Wien gelang es nämlich erstmals, die Existenz der langen Ketten in Zusammenarbeit mit den Forschungsgruppen von Kazu Suenaga am AIST Tsukuba in Japan, Lukas Novotny an der ETH Zürich in Schweiz und Angel Rubio am MPI Hamburg in Deutschland sowie am UPV/EHU San Sebastian in Spanien mit mehreren raffinierten und komplementären Methoden definitiv nachzuweisen. Dazu kamen temperaturabhängige Nah- und Fernfeld-Raman-Spektroskopie mit verschiedenen Lasern (für die Untersuchung elektronischer und schwingungstechnischer Eigenschaften), hochauflösende Transmissionselektronenmikroskopie (für die direkte Beobachtung von Carbin innerhalb der Kohlenstoffnanoröhren) sowie Röntgenstreuung (für den Nachweis der massenweisen Herstellung makroskopischer Ketten) zum Einsatz. "Der direkte experimentelle Nachweis linearer Kohlenstoffketten mit einer bisher als unmöglich zu realisierenden geglaubten Länge ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum endgültigen Verständnis von Carbin, dem ‘Heiligen Gral’ der Allotrope des Kohlenstoffs", erklärt dazu Lei Shi, Erstautor der Publikation.
Erfolg durch Hartnäckigkeit
"Es ist hier genau das passiert, was man nicht planen kann", so Forschungsgruppenleiter Thomas Pichler. Das Projekt entstand quasi als Nebenprodukt seiner hartnäckigen, rund 15 Jahre lang dauernden Forschung an gefüllten Nanoröhren. "Es gibt in der Forschung zuerst immer einen ersten 5 bis 10-Jahre-Hype, so Pichler. Egal ob bei Fullerenen, Hochtemperatursupraleitern, Nanoröhren oder Graphen. Nach dieser Phase bleiben dann aber nur mehr wenige, sehr ausdauernde ForscherInnen am Ball. Dass dann oft in der Grundlagenforschung etwas ganz anders Neues entdeckt wird, macht Forschung so spannend. Leider lassen die immer rigideren Forschungsförderungsbestimmungen solche Ausflüge immer seltener zu.
Neue Forschungsfelder
Diese neue Methode zur Carbin-Erzeugung bietet nun die Basis für künftig sehr spannende Anwendungsmöglichkeiten. Etwa um neue nanoelektronische und optomechanische Bauelemente zu entwickeln. Bis es aber soweit ist, werden freilich noch einige Jahre vergehen und zahlreiche neue Fragen auftauchen. Der Schritt für eine grundlegende Testumgebung für experimentelle Studien ist nun jedenfalls gemacht, um beispielsweise Elektronenkorrelationen und quantendynamische Phasenübergängen in begrenzten Geometrien zu erforschen oder auch grundlegende Fragen zu Elektron-Phonon-Wechselwirkungen und Quantenphasenübergängen zu klären. Vorerst arbeitet die Forschungsgruppe rund um Thomas Pichler an längeren Ketten und an Methoden, um das Carbin zu separieren. Da heißt es nun, wieder langen Atem zu bewahren.